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29. September 2020

Oops!... I did it again - OLG Frankfurt setzt weiterhin auf taggenaue Schmerzensgeldkalkulation

Kritische Anmerkungen zum Urteil des OLG Frankfurt a.M. vom 16.7.2020 - 22 U 205/19

Mit Urteil vom 16.7.2020 - 22 U 205/19 setzt das OLG Frankfurt a.M. die von Schwintowski 2012 entwickelte Theorie der taggenauen Schmerzensgeldbemessung nun abermals und mit großem Selbstbewusstsein fort (siehe dazu bereits auch OLG Frankfurt a.M. Urt. v. 18.10.2018 - 22 U 97/16 mit Anmerkungen meinerseits in der NZV 2019, 351 sowie hier auf meiner Homepage unter Aktuelles vom 8.11.2018). Dabei stellt sich der Senat sowohl gegen die etablierte Rechtsprechung des BGH (siehe BGH NJW 1955, 1675; BGH BeckRS 2016, 21466) als auch gegen die hM in Lit. u. Rspr (vgl. Slizyk Schmerzensgeld, 2020 Rn. 268 mwN) und ignoriert zudem das Votum des 52. VGT 2014 in Goslar, der sich unmissverständlich gegen eine taggenaue Kalkulation ausgesprochen hatte.

Bei genauer Betrachtung zeigt auch die neue Entscheidung des OLG Frankfurt a.M. die Schwächen der kalkulatorischen Schmerzensgeldbemessung deutlich auf. So verrechnet sich das OLG zunächst bzgl. der Tage der AU denn 138 (20.7. – 4.12.16 ) + 152 (2.6. 17 – „bis November“) ergeben 291 und nicht 278 Tage). Derartige Fehler sind bei herkömmlicher Schmerzensgeldbemessung unschädlich, wirken sich – sofern mit solchen Zahlen multipliziert wird – aber aus. Auch die Heranziehung des mtl. Bruttonationaleinkommen des Jahres, in dem sich der Unfall ereignet hat (hier: 2016), ist ungeeignet, weil fehleranfällig. So wird für Unfälle in 2020 und 2021 sicher festzustellen sein, dass sich infolge von Corona Covid-19 das Bruttonationaleinkommen verringert. Unfallopfer dieser Jahre hätten diese negativen Folgen zu tragen.

Richtet man nun den Blick auf die Motivation für eine Hinwendung zur taggenauen Kalkulation, so werden von den Befürwortern im Wesentlichen drei Aspekte benannt:

  1. Die angebliche Willkür der Gerichte.
  2. Die Einheitlichkeit des Schmerzensgeldes sowie
  3. der Wunsch nach einer Anhebung der Schmerzensgeldbeträge in Fällen, in denen die Opfer schwer und auf Dauer erheblich beeinträchtigt wurden (vgl. Schwintowski, Handbuch Schmerzensgeld, 1. Auflage 2013 Rn. 29, 58 u. 283).

Zu 1.): Den Gerichten bewusste Willkür zu unterstellen, geht zu weit! Diese haben sich grds. an dem zu orientieren, was seitens der klagenden Partei vorgetragen, d.h. in den Prozess eingebracht wird. Für die Praxis ist es daher unerlässlich, sich als Anwalt / Anwältin stets sehr umfassend mit den physischen und psychischen (vgl. BGH NJW 2013, 2965) Verletzungen und deren (Dauer)Folgen zu befassen und hierzu detailliert vorzutragen. Ebenso viel Sorgfalt ist dabei auch auf die Zitierung ggf. vergleichbarer Gerichtsentscheidungen zu verwenden; der kurze Blick in eine Schmerzensgeldtabelle, deren Auflagedatum ggf. bereits 5 oder 10 Jahre zurückliegt, wird der Sache nicht gerecht. Schließlich sollte ua auch auf den Einfluss der uns sicher noch jahrelang begleitenden Niedrig- bzw. Nullzinsphase auf die Bemessung hingewiesen werden, so dass sich die Gerichte – wie jüngst zutreffend das LG Gießen (BeckRS 2019, 34307) – auch damit auseinandersetzen und diese erhöhend berücksichtigen.

Zu 2.): Eine Einheitlichkeit der Schmerzensgeldbeträge für (vermeintlich) gleiche Fälle zu erreichen ist – insbesondere bei schweren und schwersten Verletzungen – weder möglich noch erstrebenswert, da neben den objektiv attestierten Verletzungen deren subjektive Wahrnehmung sowie deren Folgen für das einzelne Individuum stets eine in hohem Maße zu berücksichtigende Rolle bei der Bemessung spielen.

Zu 3.): Darüber, dass in solchen Fällen das Niveau der Schmerzensgeldbeträge angehoben werden sollte, herrscht in weiten Teilen der Lit. u. Rspr (vgl. Slizyk aaO. Rn. 268 mwN) Einigkeit. Insofern bes. begrüßenswert ist die dazu jüngste Entscheidung des OLG Oldenburg (BeckRS 2020, 5200), mit welchem dieses das Urteil des LG Aurich (BeckRS 2018, 40197) bestätigte, dass einem arzthaftungsbedingt beidseitig beinamputierten Jungen 800.000 EUR zuerkannt hatte.

Bei schweren Extremfälle – insbesondere bei massiv gehirngeschädigten oder anderweitig körperlich oder seelisch (Missbrauchsfälle!) schwer Verletzten  – muss endlich ein sichtbarer und für die Opfer erlebbarer Ruck nach vorne erkennbar werden und die Schmerzensgeldbemessung deutlich in den siebenstelligen Bereich vorangetrieben werden. Denn eine Obergrenze gibt es – entgegen der Ansichten des OLG München (BeckRS 2020, 901) und des OLG Köln (OLG Köln Urt. v. 5.12.2018 – 5 U 24/18, BeckRS 2018, 39188) – bekanntlich weder nach dem Gesetz noch nach der Rspr. des BGH!

Für diesen Ruck bedarf es jedoch keiner wie auch immer gearteter Formelkonstruktion und darauf basierender Kalkulation, sondern für alle an derartigen Fällen arbeitenden Jurist*innen eine stets sehr detaillierte, sehr engagierte und künftig mutigere Herangehensweise.

 Andreas Slizyk

Rechtsanwalt

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