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22. Juni 2022

Schmerzensgeld wegen Diskriminierung durch Misgendern

OLG Frankfurt a.M. spricht nicht-binärer Person 1.000 EUR immateriellen Schadensersatz zu. Urteil vom 21.6.2022 - 9 U 92/20

Immaterieller Schadensersatz bzw. Schmerzensgeld wegen Diskriminierung

Immer wieder und in zunehmendem Maße haben sich die Gerichte mit Klagen auf immateriellen Schadensersatz (der Begriff Schmerzensgeld ist insofern eigentlich nicht korrekt aber gängig) zu befassen. Diskriminierung im Sinne des AGG (= Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz), dessen Ziel es ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen, führt zu Recht meist – jedoch nicht immer – zu einem Schmerzensgeldanspruch der jeweiligen Opfer.

Mit einem bislang einmaligen Falle des Zwangs zum Misgendern im Zusammenhang mit einem Vertragsabschluss hatte sich das OLG Frankfurt a.M. mit Urteil vom 21.6.2022 – 9 U 92/20 zu befassen. "Misgendern" bedeutet, dass eine Person einem falschen Geschlecht zugeordnet oder über sie mit dem falschen Pronomen geredet wird oder – wie im vorliegenden Fall – eine Person mit nicht-binärer Geschlechtsidentität sich mangels anderer Alternativvorgaben zB beim Abschluss eines Online-Vertrages für "männlich" oder "weiblich" entscheiden muss, obwohl beides für die Person nicht zutrifft.

Das OLG folgte der klagenden Person, die in Letzterem einen Angriff auf die eigene Person sah, welcher zu „deutlichen psychischen Belastungen“ geführt habe. Bei der klagenden Person (der Begriff „Kläger“ wäre insofern wohl eine erneute Diskriminierung) handelte es sich um eine Person mit nicht-binärer Geschlechtsidentität, die sich René_Rain H. nennt wobei der "Unterstrich" zwischen den beiden Vornamen ein Hinweis auf die nicht-binäre Geschlechtsidentität sein soll.

Beklagte war eine Vertriebstochter der Deutschen Bahn AG. die René_ Rain H. auf Unterlassung und immateriellen Schadensersatz in Höhe von 5.000 Euro verklagt hatte, weil es derzeit im Online-Ticket-System der DB lediglich die Anrede "Frau" und "Herr" zur Auswahl gibt. Daher müsse eine - aus Sicht der klagenden Person - falsche Angabe getroffen werden.

Das LG Frankfurt a.M gab den Unterlassungsansprüchen statt, wies jedoch den Entschädigungsanspruch ab.

Auf die Berufungen der Parteien gab das OLG dagegen der klagenden Person in vollem Umfang – wenn auch nicht hinsichtlich der Schmerzensgeldforderung – Recht. René_ Rain H. sei infolge der Verletzung des Benachteiligungsverbots eine Entschädigung in Höhe von 1.000 Euro zu zahlen, weil die Person einen immateriellen Schaden erlitten habe. René_ Rain H. erlebe "die Zuschreibung von Männlichkeit" seitens der Deutschen Bahn als „Angriff auf die eigene Person“, welche zu deutlichen psychischen Belastungen führe. Die Entschädigung in Geld sei angemessen, da sie der klagenden Person Genugtuung für die durch die Benachteiligung zugefügte Herabsetzung und Zurücksetzung verschaffe. Abzuwägen seien dabei die Bedeutung und Tragweite der Benachteiligung für die klagende Person einerseits und die Beweggründe der Beklagten andererseits. Die Benachteiligungen für die klagende Person seien hier als so massiv zu bewerten, dass sie nicht auf andere Weise als durch Geldzahlung befriedigend ausgeglichen werden könnten, so das OLG.

„Benachteiligung im Sinne des Benachteiligungsverbots des § 7 Absatz I AGG ist jede unterschiedliche Behandlung, die mit einem Nachteil verbunden ist; nicht erforderlich ist, dass in Benachteiligungsabsicht gehandelt oder die Benachteiligung sonst schuldhaft bewirkt worden ist. Nach der Legaldefinition des § 3 Absatz I 1 AGG liegt eine unmittelbare Benachteiligung vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfahren hat oder erfahren würde“. VGH Mannheim NZA-RR 2014, 159.

Inwieweit man vor diesem Hintergrund in dem fehlenden Auswahlfeld ( ) divers für nicht-binäre Personen im Online-Buchungssystem der Deutschen Bahn (das nun für hohe Kosten umgerüstet werden muss) eine schwerwiegende Benachteiligung gegenüber männlichen oder weiblichen Personen sieht, darf hinterfragt werden – doch genau diese Frage hat nun am 21.6.2022 zumindest ein OLG aus Sicht der insofern klagenden Person positiv entschieden.

Hierzu nachfolgend noch einige weitere Beispiele:

Altersdiskriminierung durch Stellenanzeige wonach eine „zukunftsorientierte, kreative Mitarbeit in einem jungen, hochmotivierten Team" gesucht wurde. Hierin könne bereits eine Benachteiligung eines nicht eingestellten 61-jährigen Bewerbers wegen des Alters nach § 22 AGG gesehen werden. So jedenfalls sahen es sowohl das ArbG Würzburg  als auch in zweiter Instanz das LAG Nürnberg (LAG Nürnberg BeckRS 2020, 14774).

Anders entschied insofern das LAG Baden-Württemberg.  Die Formulierung in einer Stellenanzeige, wonach ein Unternehmen ein „junges hochmotiviertes Team" vorzuweisen habe und die Aufforderung, sich zu bewerben, wenn der oder die Bewerber/in „Teil eines jungen, hochmotivierten Teams" werden wolle, sei nicht eindeutig. „Jung" könne sich in diesem Zusammenhang auf den Zeitpunkt der Zusammensetzung des Teams genauso wie auf das Lebensalter der Teammitglieder beziehen. Da keines der möglichen Verständnisse überwiegend wahrscheinlich ist, fehle auch „eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für eine Benachteiligung wegen des Lebensalters", so das LAG Baden-Württemberg. (LAG Baden-Württemberg BeckRS 2016, 67158).

Ablehnung einer Person als Mieter, nur weil er einen türkisch klingenden Namen hat = 3.000 EUR (AG Berlin 14.1.2020 – 203 C 31/19).

Zutrittsverweigerung in einen Nachtclub wegen Hautfarbe = 500 EUR (AG München 17.12.2014 – 159 C 27844/13 ebenso AG Bremen 20.1.2011 – 25 C 0278/10 oder AG Aachen 20.1.2011 – 25 C 278/10).

Kein Schmerzensgeldanspruch besteht dagegen, wenn eine Firma in einer Stellenanzeige betont, dass man auf „sehr gute Deutsch- und Englischkenntnisse in Wort und Schrift“ Wert lege, denn das in § 7 AGG geregelte Benachteiligungsverbot erfasst nicht jede Ungleichbehandlung, sondern nur solche, die in § 1 (= Ziele des AGG) normiert wurden. Die Klägerin war russischer Herkunft und genügte den sprachlichen Anforderungen der Beklagten nicht. (BAG 23.11.2017 – 8 AZR 372/16 = BeckRS 2017, 144848).

Kein Schmerzensgeld erhielt auch ein Maskenverweigerer, der sich diskriminiert sah, weil man das von ihm vorgelegte Attest nicht akzeptiert hatte. Er hatte einen Attest aus dem hervorging, dass er „aufgrund eines Machtmissbrauchs in seiner Kindheit“ keine Maske tragen müsse, da bei ihm „durch Zwang und Willkür“ Ängste ausgelöst würden. (AG Bremen 23.6.2021 – 9 C 493/20 = BeckRS 2021, 5720).

Praxishinweis für Unternehmer_innen / Arbeitgeber_innen:

Die beiden oben vorgestellten Entscheidungen zur Altersdiskriminierung sowie die dem Urteil des LAG Nürnberg vorausgegangene Entscheidung des BAG  sollten jeden Arbeitgeber / jede Arbeitgeberin warnen und davon abhalten, zu konkret in ihren Stellenanzeigen und -angeboten auf Erwartungen hinsichtlich des Alters oder der Berufserfahrung hinzuweisen. Diesbezügliche Texte wie „Wir suchen Verstärkung für unser junges Team“ oder „Young Professional IT Security Consultant“ etc. sollten somit unterbleiben. Denn für einen Anspruch wegen verbotener Diskriminierung reicht es nach der Rechtsprechung des BAG und der ihm folgenden Gerichte grundsätzlich schon aus, dass sich der Anspruchsteller überhaupt auf eine derart ausgeschriebene Stelle beworben hat. Ob er sich ernsthaft Chancen ausrechnen durfte, bei der Stellenbesetzung berücksichtigt zu werden, spielt keine Rolle.

Ebenso ist in Onlineportalen neben den üblichen Auswahlfeldern ( ) Herr / ( ) Frau künftig auch ein Feld für ( ) Divers einzufügen, um etwaigen Ansprüchen keine Basis zu bieten.

Mehr zu diesem Thema finden Sie sowohl in meinem

  •  Schmerzensgeldfachbuch Slizyk, Schmerzensgeld 2022 ab Randnummer 250 sowie
  • in meiner mehr als 7.000 Urteile umfassenden Datenbank beck-online.SCHMERZENSGELD (vormals IMM-DAT).

Andreas Slizyk

Rechtsanwalt

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