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15. Februar 2023

Haftungserleichterung bei Schockschäden nach Verletzung nahestehender Personen

BGH, Urteil vom 6.12.2022 - VI ZR 168/21

Haftungserleichterung bei Schockschäden nach Verletzung nahestehender Personen

Nachdem der BGH zuletzt mit Urteil vom 21.5.2019 (BGH r+s 2019, 478) die zum „Schockschaden“ entwickelten Grundsätze (vgl. BGH r+s 2015, 151) erweitert und – über den bis dahin maßgeblichen Bereich der Unfallereignisse als haftungsbegründendes Ereignis hinaus – auch auf fehlerhafte ärztliche Behandlungen erstreckt hatte, entwickelt der BGH nun seine Rechtsprechung zum sog. Schockschaden erneut weiter.

Mit seinem Urteil vom 6.12.2022 verabschiedet sich der BGH nun von seiner bisherigen Meinung (BGH r+s 2019, 478; BGH r+s 2015, 151) wonach Schockschäden, selbst wenn sie eine psychische Störungen von Krankheitswert und damit eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB darstellen, nicht zwangsläufig zu einem Schmerzensgeldanspruch führen, es sei denn, dass sie pathologisch fassbar sind und über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgehen, denen Betroffene beim Tod, einer schweren Verletzung, einer fehlerhafte Behandlung oder eines Einwilligungsmangels eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind.

Um mit einer Schmerzensgeldklage durchzudringen mussten somit bislang stets zwei Voraussetzungen gegeben sein: Zum einen eine psychische Beeinträchtigung, die pathologisch fassbar war und zum anderen eine Ausprägung dieser Beeinträchtigung über das normale Maß der Trauer über den Tod eines nahen Angehörigen oder dessen Lebensgefahr infolge eines ärztlichen Behandlungsfehlers hinaus. Eine bloße Störung, sei sie auch pathologisch, blieb danach bisher entschädigungslos, wenn sie sich noch im Bereich einer „normalen“ (Trauer)Reaktion bewegte.

Als Schockschäden bezeichnet die Rechtsprechung und Literatur insofern stets psychisch vermittelte Beeinträchtigungen, bei welchen es sich nicht um die schadensausfüllenden Folgewirkungen einer Verletzung handelt, sondern um solche, die haftungsbegründend durch die psychische Reaktion auf ein (Unfall)Geschehen eintreten und bei denen die Beeinträchtigungen selbst Krankheitswert besitzen, also eine Gesundheitsbeschädigung iSd § 823 I BGB darstellen (BGH r+s 2021, 170). Nachdem der Gesetzgeber in § 253 Abs. 2 BGB ausdrücklich die „Verletzung des Körpers, der Gesundheit…“ als eine Voraussetzung für das Erlangen „einer billigen Entschädigung in Geld“ sprich eines Schmerzensgeldes normiert hat, war die verschärfende und anspruchserschwerende Hürde wonach diese Gesundheitsverletzung über den „normalen“ Rahmen von Trauer oder eigenem Leid hinaus zu gehen habe, nie ganz verständlich, hob sie doch auf den rechtlich sehr diffusen Bereich der allgemeinen Verkehrsanschauung dessen ab, was als noch „normaler Trauerschmerz“ und was darüber hinaus anzusehen ist.

Allerdings diente die bisherige Auslegung des BGH (bis zum Urteil vom 27.1.2015 r+s 2015, 151) dazu, den Schockschadensersatz von dem „normalen Trauerschmerz“ abzugrenzen, den jeder psychisch gesunde Mensch empfindet, wenn er Zeuge des plötzlichen Todes eines nahen Angehörigen wird. Zur Zeit dieser Entscheidung ging der BGH jedoch noch davon aus bzw. behielt seine Ansicht bei, wonach die psychische Reaktion auf ein Unfallgeschehen zurückzuführen sein musste. Indem der BGH sodann mit seiner Entscheidung vom 21.5.2019 (BGH r+s 2019, 478) diese haftungsbegründende Voraussetzung nicht mehr forderte, sondern Schockschäden auch als Folge von besonders gelagerten ärztlichen Behandlungsfehlern naher Angehöriger zuließ, war der Weg frei zur nun vorliegenden Entscheidung. Dies deshalb, weil nun der Tod und die Frage des „normalen“ oder über das „Normale“ (?) hinausgehenden Trauerschmerzes und damit die Berücksichtigung der Intension des Gesetzgebers, den Drittschadensersatz in den §§ 844 ff. auf bestimmte Vermögensschäden von Erben und Unterhaltsberechtigten zu beschränken, in der bisherigen Ausschließlichkeit nicht mehr relevant war, denn nun gab es Schmerzensgeld auch ohne den Tod oder die Todesnachricht, sondern bereits im Falle des Miterlebens des Leides eines nahen Angehörigen infolge eines ärztlichen Behandlungsfehlers.

Die Entscheidung des BGH ist sehr zu begrüßen. Nicht nur aus den soeben benannten Gründen sondern insbesondere auch deshalb, weil der BGH damit psychischen Schäden und deren oftmals ebenso erheblichen oder noch gravierenderen (in Bezug auf physische Verletzungen) Folgewirkungen nun einen höheren Stellenwert und damit eine stärkere Berücksichtigung bei der Schmerzensgeldbemessung einräumt. Letzteres ist nicht nur beim Miterleben von schweren oder gar tödlichen Unfällen sondern auch beim geteilten Leid in Bezug auf kunstfehlerhaft behandelte nahe Angehörige (BGH r+s 2019, 478) sowie darüber hinaus auch für Opfer von Gewalttaten und insbesondere für Missbrauchs- oder Vergewaltigungsopfer relevant. Denn die Schmerzensgeldbeträge für letztgenannte Fälle sind bis heute für die oftmals lebenslänglich traumatisierten, meist jungen, Opfer unerträglich gering. Es kann und darf aber keinen Unterschied bei der Schmerzensgeldbemessung machen, ob dem Opfer eines Unfalles (z.B. eines Motorradunfalles) die Wirbelsäule gebrochen und es somit gezwungen ist, sich fortan im Rollstuhl zu bewegen oder ob einem Missbrauchsopfer im übertragenen Sinne das Rückgrat gebrochen wird (Jaeger, Bemessung des Schmerzensgeldes nach Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker, VersR 2023, 209 [217]; Slizyk, Schmerzensgeld 2023 Rn. 307; Slizyk NJW 2021, 375 [376]).

Auf dem Weg hin zu einer Gleichbehandlung und Gleichstellung der beiden oben behandelten Fallkonstellationen mit ihren oftmals gleichermaßen bestehenden lebenslangen massiven Dauerschädigungen ist mit dem hier vorliegenden BGH Urteil ein weiterer Schritt getan worden; weitere sollten folgen.

Denjenigen, die durch das Urteil des BGH nun in Bezug auf Schockschäden eine Lawine losgetreten sehen, sei beruhigend zugerufen, dass insofern keine Gefahr besteht. Denn auch weiterhin gilt, dass psychische Beeinträchtigungen nur dann geltend gemacht werden können, wenn die Beeinträchtigung einen Krankheitswert aufweist und dem strengen Beweismaß der freien Beweiswürdigung (§ 286 ZPO) genügt, so der BGH. Zudem hat der VI. Zivilsenat erwogen, den Anspruch zumindest in solchen Fällen zu versagen, in denen der Geschädigte auf Ereignisse, die das objektiv jedoch nicht rechtfertigen und die im Allgemeinen ohne nachhaltige und tiefe seelische Erschütterungen toleriert zu werden pflegen, besonders empfindlich und „schockartig“ reagiert.

Rechtsanwalt Andreas Slizyk, Westerstede

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