In den Medien “(Süddeutsche Zeitung, Augsburger Allgemeine, Schwarzwälder Bote, baden.fm) besonders hervorgehoben wird aktuell das Urteil des Landgerichts Offenburg (Urteil vom 1.9.2017 – 3 O 386/14), in welchem das Ortenau Klinikum in Lahr und ein Arzt verurteilt wurden, ein Schmerzensgeld von 550.000 € an die heute schwerbehinderte Achtjährige zu zahlen. Das Mädchen erlitt – als Frühgeborene im Jahr 2008 - Hirnblutungen, die unter anderem Bewegungsstörungen, Blindheit und Epilepsie auslösten und sitzt heute im Rollstuhl und kann weder sehen noch sprechen.
Mag ein Schmerzensgeld von – wie es in der Presse gerne beschrieben wird – „mehr als eine halbe Million Euro“(Süddeutsche Zeitung, Augsburger Allgemeine) auch hoch erscheinen, so ist es dies – angesichts der extremen Verletzungen – nicht!
Für das achtjährige Kind hat sich mit der Kombination aus völliger Blindheit, völliger Sprachlosigkeit, Rollstuhlgebundenheit und regelmäßigen Krampfanfällen auf Dauer eine Lebenssituation ergeben, die ein selbstbestimmtes Leben im Kreise Gleichaltriger, den Besuch einer normalen Schule (trotz Inklusion!) oder die Verwirlichung eines späteren Berufswunsches schlicht unmöglich werden lässt. Dies und die für ihr gesamtes Leben bestehende völlige Abhängigkeit von ihren Mitmenschen, von denen das Kind – auch später als erwachsene Person – auf Dauer intensiv gepflegt werden muss, lassen den Begriff „hoch“ (Augsburger Allgemeine 1.9.2017) in einem ganz anderen, nämlich völlig unzutreffenden Licht erscheinen.
Es ist an der Zeit, dass sich in der Rechtsprechung für derartige extreme Ausnahmetatbestände,
Schmerzensgelder oberhalb von 1.000.000 € etablieren.
Die Türe dorthin stieß – wenn auch in einem völlig anderen und in keiner Weise vergleichbaren Fall – jüngst das LG Köln (Urteil vom 27.4.2017 – 14 O 323/15 auf!
Und... mehr als 550.000 € gab es auch schon – vor Jahren! Ich verweise insofern nur auf die Entscheidungen des LG Aachen (Urteil vom 30.11.2011 – 11 O 478/09, NZV 2012, 445, IMM–DAT Nr. 4485 = 700.000 €) oder des KG (Urteil vom 16.2.2012 – 20 U 157/10, NZV 2012, 445; VersR 2012, 766, IMM-DAT Nr. 4460 = 650.000 €).
Noch kurz ein Rückblick auf den Fall, den das LG Aachen entschieden hatte:
Im Falle des LG Aachen, in welchem mit Urteil vom 30.11.2011 erstmal ein Schmerzensgeldkapitalbetrag von 700.000 € zuerkannt wurde, handelte es sich – wie im hier kommentierten Fall - um einen „Arzthaftungsfall“, bei dem das Gericht den behandelnden Ärzten nicht nur einen fundamentalen Diagnoseirrtum, sondern zudem grobe Behandlungsfehler vorwarfen. Um sich von der ganzen Schwere der Verletzungsfolgen und dem nahezu unvorstellbaren Leid ein Bild zu machen, zitiert das LG richtiger Weise aus einem insofern sehr plastischen Bericht, in dem der massiv gehirngeschädigte und sensomotorisch schwer mehrfachbehinderte (zum Berichtszeitpunkt ca. sechseinhalbjährigen) Junge wie folgt beschrieben wird:
„… Durch die umfangreiche Entwicklungsstörung steht [er]… auf dem Niveau eines 3–4 Monate alten Kindes. Während des Kindergartenalltages sitzt [er]… in einem Rollstuhl mit Sitzschale oder liegt…. Er wird über eine PEG-Sonde alle zwei Stunden mit Tee versorgt.… äußert sein Wohl- und Missempfinden durch mimische Aktivität und Tönen in unterschiedlicher Tonart und Lautstärke. Er braucht bei allen Lebensbereichen die Unterstützung einer Pflegeperson. (…)… dreht [in Rückenlage] den Kopf zu beiden Seiten. Er zeigt mit der linken Hand eine Hand-Mund-Aktivität im Sinne der Berührung (…). Er kann seine Körperlage nicht selbstständig ändern und ist somit auf die regelmäßige Umlagerung durch Pflegepersonen angewiesen. (…)… liegt [in Bauchlage] flach auf dem Bauch. Der Kopf ist vorzugsweise nach links gedreht, die Arme liegen in einer physiologischen mittleren Beugehaltung. (…) Bei dem gelegentlichen Versuch [in Bauchlage] den Kopf zu heben, aktiviert [er]… kurzfristig die Stützaktivität seines Schultergürtels. (…) so schwungvoll wie er den Kopf hebt, so abrupt fällt er wieder auf die Unterlage zurück. (…) Schmerzhaft eingeschränkt sind bds. die Hüftflexion und Adduktion/Außenrotation. Die Beweglichkeit der Wirbelsäule ist (…) schmerzhaft eingeschränkt. (…) Zur Kontrakturprophylaxe trägt [er]… am Tag und in der Nacht Unterschenkelorthesen. (…) Die zentrale Steuerung der Körpertemperatur ist bei [ihm]… gestört, so dass er außergewöhnlich schnell auskühlt (…). Das erfordert eine aufmerksame Versorgung im Sinne eines kontinuierlichen Wärmens von außen. Die Belüftung der Lungen ist durch seine körperliche Inaktivität deutlich reduziert. (…) Jeder bronchiale Infekt bedeutet… ein gesundheitliches Risiko. (…) In seinen Wachphasen zeigt [er]… mimisch und stimmlich seine Freude und sein Bedürfnis, mit Menschen in Kontakt zu treten. Er reagiert auf die Ansprache von Kindern und Erwachsenen. (…) Körperliches Unbehagen äußert [er]… durch Jammern und Weinen….“
Praxishinweis: Es ist sinnvoll, derartige erschütternde Berichte zu lesen und als Rechtsanwältin oder Rechtsanwalt selbst auch derart plastisch zu verfassen, damit auch künftig in solchen besonderen Extremfällen, in denen das bis zum Schadensereignis normale und unbeschwerte Leben eines jungen Menschen (sowie deren Angehörige, was häufig vergessen wird!) komplett und nachhaltig zerstört wurde und ihm dieser Zustand ggf. jeden Tag aufs Neue bewusst ist, die Schmerzensgeldbeträge nicht an irrationalen Grenzen fixiert werden, sondern sich an der in jedem Einzelfall erneut zu erfassenden Dimension des auszugleichenden Leids orientieren.
Mehr hierzu finden Sie in der Beck´schen Schmerzensgeldtabelle 2017, Seite 137 sowie in meinem - im November 2017 neu erscheinenden - Buch "Schmerzensgeld" (Verlag C.H.Beck) im Kapitel VII 3 Schwerstverletzungen sowie auf meiner Homepage www.Schmerzensgeldratgeber.de
Andreas Slizyk
Rechtsanwalt
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